
Der zarte Klang der Ewigkeit
Eben noch hat er wie ein Mensch gewordenes Lexikon Jahreszahlen, Namen und Anekdoten herausgesprudelt, aber plötzlich hält Siegfried Adlberger inne: „Hören Sie es?“ Er wird beinahe andächtig, als das Geläut des Linzer Mariendoms seine Arbeit aufnimmt, und in diesem Moment wird klar, dass der Glockenreferent der Diözese Linz nicht einfach einen Job macht, sondern eine Leidenschaft lebt: „Fünf Töne können wir mit unseren Ohren wahrnehmen, und wenn man geschult ist, erkennt man, dass das hier Septimglocken sind. Ist das nicht ein erbaulicher Moment?“
Siegfried Adlberger, 59, ist Orgel- und Glockenreferent der Diözese Linz. Der gelernte Orgelbauer ließ sich an der Hochschule in Heidelberg zum Glockensachverständigen ausbilden. © Robert Maybach |
Seit 26 Jahren ist der gelernte Orgelbauer bereits für die Kirchenglocken zuständig, und er ist immer noch bewegt, wenn im Turm die „Instrumente“, wie er sie nennt, erklingen. Wobei das an diesem Ort besonders verständlich ist. Denn die Linzer Domglocken haben, und das muss man tatsächlich so formulieren, wie durch ein Wunder zwei Weltkriege überlebt und sind damit eines der wenigen vollständig erhaltenen Großgeläute aus der Zeit um 1900 im gesamten deutschen Sprachraum.
Das „Kupferopfer“ von Linz
90 Prozent des Glockenbestandes wurden nämlich in den beiden großen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts eingeschmolzen – die Glocken im Linzer Dom entgingen diesem Schicksal. Mit Glück, weil die größte von ihnen, die mehr als acht Tonnen schwere Immaculata, nicht abgebaut werden
konnte und die kleineren 1947 nahezu unbeschadet vom sogenannten „Glockenfriedhof“ wieder in den Turm zurückgebracht wurden. Und mit Schläue, weil die Linzer im Ersten Weltkrieg anstatt der Glocken lieber das Kupferdach des Doms beim Militär ablieferten.
Geschichten, die so ausgegangen sind, liebt Siegfried Adlberger, denn für ihn sind die Glocken nicht nur ein kirchliches Musikinstrument, das liturgische Ereignisse anzeigt: „Wenn man sich die Verzierungen und Inschriften ansieht, dann ist so eine Glocke auch ein Abdruck der Zeit. In unserer digitalen Welt muss man sich ja auch fragen, was bleibt einmal davon übrig und was verschwindet einfach? So eine Glocke hängt hunderte Jahre – und mit ihr die Botschaften, mit denen Künstler sie versehen haben.“
In all der Endlichkeit alles Irdischen wird für Adlberger da fast ein Hauch von Ewigkeit spürbar. Und es kommt ein immenser Respekt vor der Kunstfertigkeit der Glockengießer von einst auf: „Das haben ja lange die Mönche selbst gemacht. Und wenn man sich zum Beispiel das mittelalterliche Geläut in St. Florian ansieht, das seit 700 Jahren da oben hängt und dreimal täglich läutet, weiß man schon, was da geschaffen wurde.“
Harmonisch: Insgesamt sieben Glocken schwingen im Turm des Mariendoms. © Robert Maybach |
Die erste Pummerin misslang
In St. Florian war ab 1917 übrigens auch jene berühmte Glockengießerei beheimatet, die die Pummerin im Wiener Stephansdom hergestellt hat. Die im ersten Versuch übrigens misslungen war und erst beim
zweiten Anlauf hervorragend in Form und Klang gelang.
Der Gussofen in St. Florian ist längst erkaltet, und es gibt heute nicht mehr viele historische Glockengießereien, die noch im klassischen Lehmformverfahren arbeiten, wie es auch im berühmten „Lied von der Glocke“ von Friedrich Schiller beschrieben wird. Eine davon ist die von Rudolf Perner in Passau, der diese alte Handwerkskunst in langer Familientradition pflegt. Schon 1701 begann einer seiner Vorfahren mit dem Glockengießen, und die Qualität dieser Klangkörper ist so gefragt, dass Glocken aus Passau von München bis Bethlehem und von Nepal bis Neuseeland ihren Dienst tun – und natürlich auch in Oberösterreich.
Ein paar Kirchen gibt es übrigens noch, in denen nach wie vor mit der Hand geläutet wird, wie in der oberösterreichischen Gemeinde Goldwörth, wo diese Arbeit Ministranten erledigen: „Das hört man sofort, weil das ja nicht diesen perfekten Rhythmus wie eine elektronische Maschine hat. Aber das händische Läuten hatte früher natürlich auch den Vorteil, dass man sofort erkannt hat, wenn mit der Glocke etwas nicht stimmte – und entsprechend schnell reagieren konnte“, erzählt Adlberger.
Brände und Sperrstunden
Etliche „weltliche“ Funktionen der Kirchenglocken haben sich inzwischen überlebt – wie etwa die vor allem in Wien verbreitete Bierglocke, die das Ende der Ausschank und damit die Sperrstunde verkündete. Oder auch die Feuerglocke, obwohl noch zahlreiche Türmerstuben existieren, von denen aus der Ausbruch eines Brandes rasch gemeldet werden konnte. Auch in der Linzer Stadtpfarrkirche gibt es noch die Türmerwohnung, die einst diesem Zweck diente.
Seltener Einblick. Gemeinsam mit dem Glockenreferenten durften wir den Turm des Mariendoms erkunden und das Geläut aus der Nähe bestaunen. © Robert Maybach |
Das hat aber nichts daran geändert, dass das Glockenläuten für die meisten Menschen einfach dazugehört – und vermisst wird, wenn es ausbleibt: „Wir bekommen schon auch Beschwerden, wenn einmal die Zeit nicht geläutet wird“, sagt Siegfried Adlberger. Und das zeigt, dass eine der ursprünglichsten Funktionen des Glockenläutens auch in Zeiten von Smartphones und hochmodernen Zeitmanagement-Hilfen noch tief in den Menschen verwurzelt ist: den Tagen – und damit im weitesten Sinn wohl auch dem Leben – Struktur zu geben.
Glocken sind vertraute Lebensbegleiter, deren Klang den Menschen Orientierung und Sicherheit gibt.
Denn Glocken weisen ja nicht nur bis heute auf Gebetszeiten hin, manche von ihnen werden nur an hohen Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten geläutet. Und sie begleiten von der Taufe über die Hochzeit bis zum Begräbnis bedeutende irdische Stationen der Menschen mit ihrem Klang.
Vielen von ihnen gaben die Menschen auch Namen. Und auch das zeigt, dass Glocken nicht nur kunstvoll gegossene Klangkörper, sondern vertraute Lebensbegleiter sind, deren Klang den Menschen Orientierung und Sicherheit gibt. ♦
Der Beitrag erschien erstmals in "Grüß Gott! – Magazin über Gott und die Welt" Herbst 2021, herausgegeben von der Katholischen Kirche in Oberösterreich.