Ein Stück Heimat zum Kaffee
Danke. Ein kleines Wort, das so viel ändern kann. Es markiert den Beginn eines Rituals, das am Anfang jedes Betreuerinnen-Cafés für 24-Stunden-Pflegerinnen zelebriert wird.
Es sind vor allem Frauen, die aus der Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Ungarn kommen, um in der Ferne zu arbeiten und unsere Angehörigen zu pflegen – oft Mütter, die mit ihrem Einkommen die Ausbildung ihrer Kinder und die Finanzierung ihres Eigenheimes ermöglichen. Sie treffen im Pfarrheim Leonstein auf beherzte Frauen aus Oberösterreich, die ihnen genau dafür Anerkennung, Respekt und ein offenes Ohr bieten wollen.
„Wir sagen Danke – dafür, dass sie diese Arbeit machen, unsere Angehörigen pflegen, so weit von ihren Familien entfernt, oft ständig erreichbar sind. Das ist nicht nur eine körperliche Herausforderung, sondern oft auch eine psychische“, so Initiatorin Ingrid Sitter. Demenzielle Erkrankungen können sehr herausfordernd sein, das Heben und Legen der bettlägerigen Patientinnen und Patienten ist schwere Arbeit, und daneben gilt es noch dazu, die Hausarbeit zu machen. Es sind die gleichen Anforderungen, die pflegende Angehörige ebenso haben, die auch meist alleine alles bewerkstelligen müssen. „Also haben wir – Christine Aigner, Marilies Eckhart und ich – uns im Pfarrgebiet Leonstein und Molln umgesehen, um zu erfahren, wie viele Personenbetreuerinnen hier arbeiten, wie es ihnen dabei geht und welche Unterstützung wir ihnen geben können“, sagt Ingrid Sitter.
Alle drei Monate treffen sich die Frauen beim Betreuerinnen-Café im Pfarrheim Leonstein. (Foto: www.raphaelgabauer.com)
Diese Unterstützung bieten sie nun seit fast vier Jahren bei Kaffee und Kuchen. Mittlerweile finden die Treffen alle drei Monate statt. In gemütlicher Runde knüpfen die Betreuerinnen Kontakte, unterstützen sich gegenseitig mit Rat und Tat, es wird gelacht, getröstet und informiert. So findet Integration in die Gemeinde statt, und die Frauen fühlen sich weniger einsam – eine starke Idee von gelebter Nächstenliebe, die bereits in anderen Gemeinden umgesetzt und mit vielen Auszeichnungen, etwa dem Solidaritätspreis der „KirchenZeitung“, bedacht wurde.
Ingrid Sitter erinnert sich gut an jenen Tag, an dem die Vision zum ersten Mal greifbare Formen annahm: „Wir sind zusammengesessen und haben Kaffee getrunken, haben unsere Gemeinschaft genossen, den Austausch und die Freude an unserer Freundschaft – und dann haben wir an die Frauen gedacht, die so weit weg von zu Hause bei uns alte Menschen pflegen und die wahrscheinlich genau das vermissen: miteinander in Gemeinschaft Kaffee trinken.“
Sichtbare Solidarität
Im Betreuerinnen-Café weiß man, welchen Stellenwert die Pflegearbeit in unserer Gesellschaft einnimmt. Denn die demografische Entwicklung zeigt, dass unsere alternde Gesellschaft vor großen Herausforderungen steht: Die Geburtenzahlen stagnieren, die Lebenserwartung steigt, aber auch die Familienstrukturen haben sich in den letzten 50 Jahren drastisch verändert – von der Versorgung im Familienverband hin zur Vereinzelung.
Ingrid Sitter (Mitte) hat das Betreuerinnen-Café ins Leben gerufen. (Foto: www.raphaelgabauer.com)
Veränderungen, die Ingrid Sitter hautnah miterleben konnte: Über 16 Jahre arbeitete sie in einem Seniorenheim, drückte dann nochmals die Schulbank und machte das Krankenpflegediplom. In einer Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige, die sie mitleiten durfte, nahm sie die Bedürfnisse der Menschen wahr – und erkannte die Mängel im System: „Würden Angehörige für ihre Arbeit bezahlt, müssten keine Pflegerinnen kommen, die unterbezahlt und ohne Netzwerk sind. Wir können das System nicht ändern, aber wir können die Frauen unterstützen, sie wertschätzen“, sagt Sitter. „Jede hat ihre eigene Situation und ihre individuellen Probleme. Aber was alle brauchen: ein hörendes Ohr, ein mitfühlendes Herz und manchmal eine helfende Hand.“
Zeit nur für sich
Durch das Pfarrheim zieht bereits der Duft von Kaffee und frisch gebackenem Kuchen, die lange Tafel ist farbenfroh gedeckt, und die Pflegerinnen, die von Freiwilligen aus den umliegenden Dörfern abgeholt werden, treffen gut gelaunt ein – darunter auch Alexandra aus Pitești in der Walachei, Mihaela aus Petroșani in Siebenbürgen und Iveta aus Sobrance in der Ostslowakei. Ihre „Pfleglinge“ – im Falle Ivetas ist es die fast 90-jährige Leopoldine – dürfen dabei sein, soweit sie mobil sind. Sie werden in einem Nebenraum betreut, die Türen sind geschlossen: Die Frauen sollen für ein paar Stunden frei von Verantwortung sein und offen reden können.
Ich denke oft an meine Kinder: Lernen sie brav für die Schule, sind sie gesund, sind sie zufrieden und glücklich, vermissen sie mich?
24-Stunden-Betreuerin Mihaela
Alexandra macht den Anfang. In ihrer Heimat nahe Bukarest wurde eine große Chemiefabrik stillgelegt, tausende Arbeitsplätze gingen verloren. Trotzdem will sie ihrer Familie ein gutes Leben ermöglichen. Der Preis, den sie dafür zahlt? Heimweh. „Manchmal vermisse ich jeden einzelnen Stein in meinem Garten“, sagt sie. „Auch deswegen ist dieses Café für uns so wichtig. Ich sehe meine Kolleginnen, wir sind alle zusammen, vergessen die Sorgen kurz und können auf Rumänisch tratschen.“ Ihre Kollegin Mihaela hat sie im Pfarrheim kennengelernt, sie wurden Freundinnen in der Ferne. Mihaelas Heimat Petroșani wird auch die „arme Stadt der Bergarbeiter“ genannt. In Rumänien arbeitete sie für 200 Euro monatlich sechs Tage die Woche in einem Einzelhandelsgeschäft. Das reicht gerade so zum Überleben, doch ihr Sohn möchte eine weiterführende Schule besuchen – und das kostet. „Ich denke oft an meine Kinder: Lernen sie brav für die Schule, sind sie gesund, sind sie zufrieden und glücklich, vermissen sie mich?“ Sie zeigt Iveta stolz die Handyfotos ihrer Familie. Diese freut sich still, ist etwas schüchtern – aber wenn man beobachtet, wie sie ihre „Frau Leopoldine“ unterstützt, weiß man gleich, welche Kräfte in ihr wohnen.
Womit die 24-Stunden-Pflegekräfte weniger zufrieden sind? Sie alle schildern, wie hart und undurchsichtig das Pflegegeschäft abläuft: Über 700 Vermittlungsagenturen gibt es in Österreich, die an die Familien herantreten. Und dann im Hintergrund noch Agenturen, die in den Herkunftsländern tätig sind und die Frauen rekrutieren. Darunter auch schwarze Schafe mit Knebelverträgen, die beim Ausstieg über 3.000 Euro Strafe geltend machen – eine astronomische Summe in einem Land wie Rumänien.
Jede der Frauen braucht ein hörendes Ohr, ein mitfühlendes Herz und manchmal eine helfende Hand.
Ingrid Sitter
Ausbeutung passiert, auch heute, auch inmitten unserer Wohlstandsgesellschaft – und schon bei der Anreise. Sitter erklärt: „Der Turnus kann unterschiedlich lang sein, slowakische Betreuerinnen arbeiten in der Regel 14 Tage und sind dann 14 Tage zu Hause, rumänische Betreuerinnen arbeiten meist vier oder fünf Wochen“, sagt sie. „Die Frauen benützen meist Taxis, die von Agenturen organisiert werden, manche aber fahren mit sogenannten freien Taxis aus ihren Heimatländern. Der Mann am Steuer fährt die ganze Strecke durch, das sind oft 20 Stunden und mehr, nur mit Pinkelpausen. Da machen sich die Frauen oft aus, wer vorne sitzt und den Fahrer unterhält, weil sie Angst haben, dass er einschläft. Bei der Heimfahrt wurden einige schon überfallen, weil die Kriminellen wissen, dass die Frauen dann Bargeld mit sich tragen.“
Auf einer Landkarte tragen die Frauen ihren Heimatort ein. Die meisten kommen aus der Slowakei und Rumänien. (Foto: www.raphaelgabauer.com)
Einziger Lichtblick: „Die Qualitätskontrolle ist im Anlaufen, es gibt seit Dezember 2019 ein Zertifikat. Dieses bekommen die Agenturen nur, wenn sie auch Evaluierungsarbeit machen, das heißt, die Qualität der Betreuungsarbeit überprüfen.“
Seelennahrung Schaumrolle
Im Pfarrheim werden derweil Visitenkarten und neue Broschüren ausgeteilt, darunter ein Informationsblatt über Ernährung und Demenz, das in viele Sprachen übersetzt wurde. Zu den selbst gemachten Schaumrollen, die verteilt werden, weisen die Organisatorinnen darauf hin, dass die Frauen sich jederzeit melden können. „Wir wollen nicht nur die Professionalität erhöhen zum Wohle unserer alten Menschen, wir wollen auch die Menschlichkeit pflegen und Solidarität unter Frauen leben“, so Marilies Eckhart, die seit Frühjahr 2016 mit dabei ist. Für die Zukunft haben sie und ihre Mithelferinnen große Pläne: „Betreuerinnen-Cafés soll es überall in Österreich geben, wo 24-Stunden-Betreuerinnen arbeiten.“ Und Ingrid Sitter ergänzt: „Uns ist es ein Anliegen, etwas Sinnvolles zu tun oder es zumindest zu versuchen.“
Christine Aigner, Marilies Eckhart und Ingrid Sitter (v.l.n.r.) leben Solidarität. (Foto: www.raphaelgabauer.com)
Am Anfang dieses Versuches steht – wie am Anfang dieses Textes – sehr oft das Wort „Danke“. So auch am Ende. „Danke für deine Arbeit, für die Liebe, für die Geduld, für das gute Essen“, das ist auch der Satz, den Alexandra, Iveta, Mihaela und all die anderen Pflegerinnen zum Abschied zu hören bekommen, bevor sie wieder an ihren Arbeitsplatz gebracht werden. Manchmal kann das eine Wort – gemeinsam mit Kaffee und Kuchen – die Welt ein kleines bisschen besser machen.
Helfende Hände gesucht
Sie wollen die Betreuerinnen-Cafés in Ihrer Gemeinde unterstützen? Ingrid Sitter gibt über die Möglichkeiten gerne Auskunft: inga.sitter[at]aon.at
Sitter und ihr Team unterstützen mit Spenden auch das Kinderheim „Stern der Hoffnung“ in Rumänien. Hier werden Kinder betreut, deren Eltern ins Ausland gehen, um Geld für ihre Familien zu verdienen.
Weitere Infos: www.dioezese-linz.at/leonstein
(Foto: Eriver Hijano) |
Dieser Beitrag erschien im Magazin "Grüß Gott! - Das Magazin über Gott und die Welt" in der Ausgabe 2 / Frühling 2020. Das Magazin wird von der Diözese Linz herausgegeben und erscheint zwei Mal im Jahr.
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