Drei Leben, durchkreuzt
Der Tod. Das ist das eine große Thema im Leben von Leopoldine Scharinger. Viele, zu viele Menschen sah sie sterben. Nahe Verwandte genauso wie unbekannte Menschen, die sie als freiwillige Hospizbegleiterin auf dem letzten Weg begleitete.
Der Glaube ist das andere große Thema. Er half ihr in vielen dunklen Stunden. „Ohne die Kraft von oben hätte ich es nicht geschafft“, sagt sie. Und dennoch gab es auch immer wieder Momente des Zweifelns. „Die gehören dazu.“
Leben mit dem Sterben
Der Tod trat früh ins Leben von Leopoldine Scharinger, die von allen „Poldi“ genannt wird. Der Vater fiel im Garten acht Meter vom Kirschbaum hinunter und starb; die Zwölfjährige war es, die ihn dort fand. Im Alter von 35 Jahren verstarb ihre geliebte Stiefschwester Grete an Lungenkrebs. Sie hinterließ einen herzkranken Mann und vier Kinder im Alter von eineinhalb bis elf Jahren. „An ihrem Sterbebett musste ich ihr versprechen, dass ich mich um die Kinder kümmern werde.“ Irgendwie schupfte Poldi Scharinger diese zusätzliche Herausforderung neben zwei eigenen Kindern und ihrem Mann, der sich gerade mit einem Tischlerbetrieb selbständig gemacht hatte. Sie fand sogar noch die Kraft und die Zeit, ehrenamtlich Nachtdienst im Hospiz in Ried zu versehen.
Leopoldine Scharinger hat viele Menschen sterben sehen. "Sich daheim zu verkriechen ist aber keine Lösung." (Foto: Robert Maybach)
Die 63-Jährige sitzt in der selbst gezimmerten Stube ihres Hauses in Stroheim, das sie mit ihrem Mann nach der Hochzeit bezogen hat. Der Blick schweift über das Eferdinger Becken und bleibt an den markanten Gipfeln von Ötscher, Traunstein und Dachstein hängen. In der Hand hält sie eine Trauerparte. „Karl Scharinger, 1955 bis 2001“ steht auf dieser geschrieben. Und: „Der Glaube tröstet, wo die Liebe weint.“ Im Alter von 18 Jahren hatten sie einander bei der Volkstanzgruppe kennengelernt.
Mit 46 war er tot. Nach einer Grippe bekam er eine bakterielle Entzündung am Herzen. Er musste operiert werden, eine Naht ging auf, die Ärzte konnten die innere Blutung nicht stoppen. „Jede Nacht war ich an seinem Grab, weil ich nicht schlafen konnte“, erzählt sie. Es sei eine Gratwanderung gewesen, meint sie rückblickend, zwischen Trauer, Zukunftsängsten und der Verantwortung, für die Kinder stark sein zu müssen.
Man muss auch einmal schwach sein dürfen. Aber es ist wichtig, dass man danach auch wieder aufsteht.
„Dabei muss man auch einmal schwach sein dürfen – solange man danach wieder aufsteht. Oft schafft man das allerdings nicht alleine.“ Sie suchte in dieser Zeit ganz bewusst den Kontakt zu anderen Menschen und nahm therapeutische Hilfe in Anspruch. „Sich daheim zu verkriechen ist keine Lösung“, ist sie überzeugt. Ihr „Drahtseil nach oben“ habe ihr in ihrem Leben geholfen. „Christus ist mein Seil, mein bester Freund. Ich bin dankbar, dass ich es geschafft habe. Aber ich kann verstehen, wenn andere an solchen Schicksalsschlägen zerbrechen.“
Das Leben sollte Poldi Scharinger noch vor eine weitere Prüfung stellen. 2003, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, starb ihr Pflegekind Markus in ihrem Wohnzimmer an einer Lungenembolie. Mit 22 Jahren. „Das gibt’s nicht!“, schrie sie voller Wut und Verzweiflung.
Viele Jahre sind seitdem ins Land gezogen. Ihr Garten, ihre Enkelkinder, ihre Katzen sowie die Arbeit in der Pfarre erfüllen nun ihre Tage. Sie leitet Wortgottesfeiern, bringt die Krankenkommunion zu jenen Menschen, die nicht mehr in die Kirche kommen können, und gestaltet Totenwachen. Poldi Scharinger gibt den Schatz ihrer Erfahrung weiter und damit anderen Halt. „Ich habe mich viel mit dem Tod beschäftigt, weil er mir so oft begegnet ist“, sagt sie. „Ich habe die Angst vor ihm verloren. Er gehört zu meinem Leben.“
Von einem Lkw überrollt
Leben und Tod. Wie schmal der Grat dazwischen sein kann, erfuhr Jakob Lorenz am 20. Juli 2018. Der damals 18-jährige Maschinenbaulehrling war an diesem Freitag nach der Arbeit auf dem Weg zu seiner Freundin. Als er mit seinem Motorrad einen Sattelschlepper überholte, stieß er mit einem einbiegenden Auto zusammen. Er stürzte, wurde unter den Lkw geschleudert und von diesem überrollt. Drei Tage lag er im künstlichen Koma, drei Wochen auf der Intensivstation, drei Monate im Spital in Linz. An den Unfall und die Wochen danach kann sich Jakob Lorenz nicht erinnern. Anfangs war fraglich, ob er den Unfall überhaupt überleben würde. Zwölf Rippen waren gebrochen, das Schulterblatt zertrümmert, der Oberschenkel gebrochen, die Lunge gequetscht, der linke Arm so schwer verletzt, dass eine Amputation im Raum stand. Die Reifenabdrücke des Lkw verliefen quer über seinen Körper. Doch die schlimmste Diagnose war: komplette Querschnittslähmung.
Jakob Lorenz sitzt nach einem schweren Motorradunfall seit eineinhalb Jahren im Rollstuhl. "Ich hatte nie ein richtiges Tief", sagt der 19-Jährige. (Foto: Robert Maybach)
Jakob Lorenz überlebte. Und saß fortan im Rollstuhl. Seine Freundin konnte damit nicht umgehen. „Sie hat mich nach dem Unfall hergegeben“, sagt der Mühlviertler ohne Verbitterung und fügt hinzu: „Irgendwann wird eine neue Liebe in mein Leben treten.“ Optimismus – das ist es, was Jakob Lorenz auszeichnet. Auch der Unfall konnte ihm seine positive Grundeinstellung zum Leben nicht nehmen. Sechs Monate verbrachte er auf Reha in Bad Häring in Tirol. Das Angebot einer begleitenden Psychotherapie schlug er aus. „Ich hatte nie ein richtiges Tief“, erzählt er. „Es bringt nichts, wenn ich alles hinterfrage und nach einem Schuldigen suche. Ich habe mein Schicksal akzeptiert. Ich sehe die Fortschritte und freue mich, dass ich noch am Leben bin.“
Eineinhalb Jahre ist der Unfall nun her. Seitdem hat sich viel verändert. Nein, Jakob Lorenz ist nicht geheilt und kann auch nicht wieder gehen. „Unterhalb des zwölften Brustwirbels spüre ich nichts. Die Chance auf Besserung ist praktisch null“, sagt der 19-Jährige. Aber mittlerweile kann er sich selbst vom Rollstuhl ins Auto hieven, er fährt alleine mit dem Auto, spielt Tischtennis in einem Verein, geht regelmäßig ins Fitnesscenter. „Es ist anders als vorher und es ist kompliziert, aber es geht.“ Seine Eltern ließen das Haus rollstuhlgerecht umbauen, damit er nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist.
Bei seinem Arbeitgeber, der voestalpine in Linz, hielt man ihm die Lehrstelle frei und richtete eigens einen Parkplatz und ein Behinderten-WC ein. „Es ist wichtig, dass man aufgefangen wird. Meine Kollegen haben mich nicht vergessen. Sie haben mir Briefe und Pakete geschickt und mich sogar während meiner Reha in Tirol besucht. Dafür bin ich sehr dankbar.“
Zweimal überlebt.
Krebs. Diese Diagnose erhielt Schwester Huberta Rohrmoser gleich zweimal in ihrem Leben. „Brustkrebs“, sagte der Arzt, und bereits zwei Tage später lag die damals 40-Jährige unter dem Messer. „Es ging alles so schnell, die Seele war noch gar nicht bereit“, erinnert sich die Marienschwester vom Karmel. „Ich fühlte mich gesund. Aber ich wusste, wie es enden kann.“ Ihre eigene Mutter war im Alter von 45 Jahren an Brustkrebs gestorben. Schwester Huberta besiegte den Krebs und arbeitete weiterhin als Lehrerin an der ordenseigenen Schule für wirtschaftliche und soziale Berufe in St. Pantaleon.
Doch dann, zwölf Jahre später, kam er zurück: Metastasen auf beiden Lungenflügeln diagnostizierte der Arzt nach einer Routineuntersuchung. „Es klang wie mein Todesurteil – mit 52 Jahren!“ Die insgesamt zwölf Chemotherapien setzten ihr schwer zu: Fieberschübe folgten auf Schüttelfrost-Attacken und furchtbare Übelkeit. In dieser Zeit zeigten sich ihre wahren Freunde. Manche hielten das Leid und das drohende Ende einfach nicht aus. „Die Kraft Gottes, meine Mitschwestern und viele Menschen, die einfach da waren, haben mich durch diese Monate getragen. Die eigene Familie ist meist selbst so betroffen, dass man glaubt, sie schützen zu müssen. Dabei braucht es Menschen, denen man die Wahrheit zumuten kann, wie es einem wirklich geht.“
Die Ordensfrau überlebte Brustkrebs und Lungenkrebs. Ihre Genesung war wie ein Wunder. (Foto: Robert Maybach)
Drei Monate nach der letzten Chemo kam die ernüchternde Diagnose: Die Lungenmetastasen waren nicht zurückgegangen, sie waren gewachsen. Zweifel folgten, auch an ihrem Glauben und an Gott. „Ich habe mit Gott gehadert. Ich habe ihn auch geschimpft. Wenn es einem richtig schlecht geht, kann man auch nicht beten“, erinnert sich Schwester Huberta. „Am meisten hat mir geholfen, wenn andere für mich gebetet haben.“ Zweifel, sagt sie, seien im Glauben erlaubt. Und diese Gefühle solle man auch zulassen – denn wenn man sie bekämpft, werden sie nur stärker. Den Gedanken, dass Gott sie mit der Krankheit strafen wolle, habe sie nie gehabt. Im Gegenteil: „Ich wusste, Gott ist auch in dieser Situation bei mir.
Ich habe mit Gott gehadert. Zweifel sind im Glauben erlaubt. Diese Gefühle soll man auch zulassen, denn wenn man sie unterdrückt, werden sie bloß stärker.
Zehn Prozent Überlebenschance gaben ihr die Ärzte damals. Zwanzig Jahre ist das mittlerweile her. Warum sie wieder gesund wurde? „Das weiß ich bis heute nicht.“ Was sie weiß: Glaube, Hoffnung und Vertrauen sind existenzielle Grundhaltungen, für die man sich entscheiden kann. „Es geht gut aus“, sagte sie sich immer wieder, „und das muss nicht die Heilung sein.“
Schwester Huberta ging gestärkt aus der Krankheit hervor und wuchs dadurch in ihre Berufung hinein: das Meditieren. Zwischen Wien und Wörgl ist die 72-Jährige heute unterwegs und hält Kurse in Meditation und Kontemplation. Zudem begleitet sie krebskranke Menschen und deren Angehörige, die sich bei ihr besonders gut verstanden fühlen.
Sie weiß, dass es guttut, sich nicht zu sehr auf das eigene Leid zu fixieren. Und sie rät dazu, im Hier und Jetzt zu leben und für das scheinbar Selbstverständliche dankbar zu sein. „Wenn ich in der Früh aufwache, bin ich dankbar, dass ich geschlafen habe – denn während der Chemo habe ich nächtelang kein Auge zugetan. Damals ist mir schon schlecht geworden, wenn ich das Essenswagerl nur heranrollen gehört habe. Heute freue ich mich ganz bewusst über jedes Essen.“
Sein Schicksal annehmen, die Freude am Leben nicht verlieren und das Wertvolle sehen, mit dem man tagtäglich beschenkt wird: Das ist es, was Poldi Scharinger, Jakob Lorenz und Schwester Huberta Rohrmoser eint. Sie alle waren mit Leid und Tod konfrontiert, doch sie versanken nicht im Dunkel. „Meine Haltung zum Leben hat sich verändert. Ich spüre viel mehr“, sagt Poldi Scharinger. „Der Unfall hat mir meine positive Grundeinstellung nicht genommen“, resümiert Jakob Lorenz. Und Schwester Huberta ergänzt: „Es gibt so viel Schönes im Leben! Das darf man nie vergessen.“
(Foto: Eriver Hijano) |
Dieser Beitrag erschien im Magazin "Grüß Gott! - Das Magazin über Gott und die Welt" in der Ausgabe 2 / Frühling 2020. Das Magazin wird von der Diözese Linz herausgegeben und erscheint zwei Mal im Jahr.
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