Ein Bild von einem Mann
Als ich ganz klein war, noch im Kindergarten, bin ich mit meiner Mutter fast jeden Tag an einem Kruzifix vorbeispaziert. Es war eines von den klassischen, wie man sie in Österreich alle paar hundert Meter findet: Ein ausgemergelter, blutüberströmter Mann aus Holz ist dort gehangen, die Rippen sind ihm weit herausgestanden, ganz herzzerreißend war sein Blick zum Himmel gerichtet.
Viel habe ich damals nicht gewusst über diesen Herrn Jesus, aber eines war klar: Er hat mir furchtbar leidgetan. Darum habe ich meine Mutter irgendwann gefragt, ob wir ihm nicht einen von meinen Pullovern geben können. Damit er es wenigstens nicht kalt hat, wenn er da so hängen muss.
Die meisten von uns haben ein vages Bild im Kopf, wenn sie den Namen Jesus hören. Der Mann mit Bart und langen Haaren – oft leidend, manchmal erhaben, aber immer ein bisschen entrückt von unserer Welt. Und wir hören so viele Dinge über ihn, die nicht immer zusammenpassen. Bei dem einen Religionslehrer hat es geheißen, heute würde man ihn einen Hippie nennen. Mit den langen Haaren und Sandalen hat das immerhin optisch gut gepasst. Aber der nächste Lehrer hat gesagt: Ein Revoluzzer war er! Ein wilder Hund, der die Geldwechsler aus dem Tempel gejagt hat und vor dem das Establishment Angst hatte.
Würde er im Gasthaus ein Bier mit mir trinken? Oder würde er lieber draußen mit den Kindern Fußball spielen?
Glatt oder verkehrt
Aber was war das wirklich für einer, dieser Jesus von Nazaret? Das möchte ich wissen. War er die traurige Gestalt am Kreuz, die mir als Kind so leidgetan hat? War er ein Revoluzzer oder ein Hippie? Hat er wirklich Sandalen und einen Bart getragen? Würde er im Gasthaus ein Bier mit mir trinken (ich lade natürlich ein)? Würde er mit den Leuten dort ins Gespräch kommen? Oder würde er lieber draußen mit den Kindern Fußball spielen?
Für Antworten auf so schwierige Fragen braucht es einen Profi. Und den finde ich in Johann Hintermaier, Lehrbeauftragter für Bibelwissenschaft, Bischofsvikar für Erwachsenenbildung und seit 1993 Priester der Diözese Linz. Wir fangen mit einer einfachen Frage an: Wie hat Jesus ausgeschaut? Aber da gibt es gleich die erste Enttäuschung: „Wir wissen eigentlich überhaupt nicht, wie Jesus ausgesehen hat. Nur, dass er ungefähr 30 Jahre alt war, als er das erste Mal öffentlich auftrat.“ Stimmt: In der Bibel wird das Aussehen von Jesus nirgends beschrieben. Man stellt sich beim Lesen eben einen Mann mit Bart und langen Haaren vor, aber genauso gut hätte er auch kurzhaarig und glatt rasiert sein können. So wird er sogar auf den allerfrühesten Bildern gezeigt, die man in römischen Katakomben gefunden hat: ein junger Hirte mit knapper Tunika, kurzem Haar und einem Lamm über der Schulter. So wie er dort ausschaut, wäre er beim Fußballspielen sicher gern dabei gewesen.
In spätantiken Bildern hat man Jesus nicht leidend am Kreuz dargestellt, sondern auf einem Thron.
Krone statt Dornen
Und warum sehen Bilder von Jesus dann heute ganz anders aus? „Das kommt aus der Spätantike“, erklärt Johann Hintermaier, „damals war der Bart ein Zeichen von Weisheit. Darum hatten die Philosophen immer einen und auch einige römische Kaiser.“ Und darum hat man eben auch Jesus einen Bart verpasst. Um den Leuten zu zeigen: Passt auf, der Mann weiß, wovon er spricht. In Bildern hat man ihn damals aber nicht leidend am Kreuz dargestellt, sondern auf einem Thron – als strahlender König und Sieger über Sünde und Tod. Das Kreuz als Symbol sei erst im frühen Mittelalter dazugekommen: „Aber auch da hat man Jesus nicht als Leidenden dargestellt, sondern als König am Kreuz.“ Erhaben und mächtig also, mit richtiger Krone statt Dornenkrone. Klingt nicht gerade wie jemand, der ein Bier mit mir trinken würde.
Das Kreuz mit dem Leid
Erst in der Gotik – als man auch angefangen hat, große Kathedralen wie den Wiener Stephansdom zu bauen – ist der leidende Jesus am Kreuz entstanden. Und das Mitleid, das ich als Kind beim Vorbeigehen an so einem Kruzifix gespürt habe, war eigentlich genau, was man damit erreichen wollte. Laienhaft ausgedrückt: Wer ihn anschaut, soll intensiv mit ihm mitfühlen und dadurch eine innerliche Beziehung zu Jesus aufbauen.
Mit Jesus am Kreuz können viele Leute nichts mehr anfangen.
Das hat anscheinend gut funktioniert, sonst hätte es sich nicht über viele Jahrhunderte gehalten. „Ich bin aber nicht sicher, ob diese Darstellung heute noch die sinnvollste ist“, sagt der Bischofsvikar dazu, „denn viele Leute können damit nichts mehr anfangen.“ Ist auch irgendwie klar: Die Leute damals haben in einer ganz anderen Welt gelebt als wir heute. In einer Welt, in der Leid, Gewalt und Tod viel alltäglicher waren und so ein Bild wahrscheinlich ganz andere Schalter im Kopf umgelegt hat. Wir kennen blutige Hinrichtungen – zum Glück! – höchstens aus dem Fernsehen. Und darum fehlt uns der Bezug. „Dieser leidende Jesus ist als Person der Gewaltlose, der sagt: Ich kann meine Botschaft nicht verleugnen. Und dafür wird er angenagelt“, erklärt Johann Hintermaier. „Es braucht viel Kraft, um sich so etwas antun zu lassen. Aber es braucht auch Kraft und ist genauso wichtig, dass man als Stärkerer Nein zur Gewalt sagt. Und diese Botschaft wird mit der Kreuzesdarstellung nicht transportiert.“
„Aber er wollte die Welt zum Frieden führen und die Menschen, die unrecht tun, dazu bringen, dass sie selber sagen: So nicht, das ist ein Blödsinn.“
Die andere Wange
Sollten wir uns Jesus also eher als Hippie vorstellen, so wie im Musical „Jesus Christ Superstar“? Oder als Revoluzzer, vielleicht mit einem Käppi wie Che Guevara? „Im Neuen Testament kommt recht eindeutig heraus, dass Jesus nicht als Revolutionär gekommen ist“, meint Johann Hintermaier. Klar, wenn man das Heilige entheiligte – wie die Geldwechsler im Tempel –, konnte er auch richtig dreinhauen. „Aber er wollte die Welt zum Frieden führen und die Menschen, die unrecht tun, dazu bringen, dass sie selber sagen: So nicht, das ist ein Blödsinn.“ Klingt eher wie das Gegenteil von Che Guevara, das Käppi kann also wieder ab. Dann vielleicht mehr wie die Hippies in den Sechzigern, die ja auch gern einmal die andere Wange hingehalten haben?
An der Kreuzung nicht gleich zurückkeppeln. Sich den gehässigen Facebook-Kommentar verkneifen. Manchmal ist es ganz leicht, Gutes zu tun – indem man einfach das Böse unterlässt.
Sobald ich die Wange erwähne, schreckt Johann Hintermaier ein bisschen auf: „Das mit der anderen Wange in der Bergpredigt – das wird gern so lieblich-verharmlosend interpretiert. Aber da hat er nicht gesagt: Ja bitte, hau mir noch eine runter! Der eine schlägt, der andere nicht. Darum geht es: den Kreislauf des Bösen zu durchbrechen.“
Einfach nicht zurückhauen. An der Kreuzung nicht gleich zurückkeppeln. Sich den gehässigen Facebook-Kommentar verkneifen, auch wenn er noch so verdient wäre. Manchmal ist es ganz leicht, Gutes zu tun – indem man einfach das Böse unterlässt. Und doch kann es furchtbar schwierig sein. Mit Flower-Power muss das nicht unbedingt zu tun haben. „Aber wofür Jesus auf jeden Fall steht, ist das Aufbrechen des materialistischen Denkens. Danach haben sich die Hippies gesehnt, und diesen Aspekt haben sie auch bei Jesus gefunden.“ Eine gewisse Ähnlichkeit gibt es also – nicht nur, was die Frisur angeht. ♦
Dieser Text ist erstmals in "Grüß Gott!" – Magazin über Gott und die Welt 01/2021,
herausgegeben von der Katholischen Kirche in OÖ, erschienen.