Das war das Forum Streitkultur
Für den Politikwissenschaftler Heinz Gärtner ist die österreichische Neutralität kein Relikt vergangener Zeiten, sondern eine Chance: Sie ermögliche eine engagierte und glaubwürdige Außenpolitik jenseits von Bündniszwängen. Österreich sei nicht Teil eines Militärbündnisses, das in Kriege verwickeln könnte, und handle daher bei Friedenseinsätzen im Rahmen der UN aus Überzeugung, nicht aus strategischen Interessen. Das Bundesheer sei etwa in Afrika an Missionen beteiligt, bei denen es nicht um Ressourcen oder geopolitische Vorteile gehe, sondern um den Schutz von Zivilisten und die Stabilisierung fragiler Staaten.
Gerade die aktive Neutralität während und nach dem Kalten Krieg habe Österreichs außenpolitisches Profil geschärft. Internationale Organisationen wie die UNO oder die OPEC haben Wien als Standort gewählt – nicht zuletzt wegen der glaubwürdigen Neutralitätspolitik, die unter Persönlichkeiten wie Bruno Kreisky eine hohe internationale Anerkennung erlangte. Das „Wiener Abkommen“ zum iranischen Atomprogramm 2015 war ein diplomatischer Meilenstein, der ohne diese spezielle Rolle wohl kaum zustande gekommen wäre.
Gärtner betont: Neutralität heißt nicht passives Heraushalten, sondern engagiertes Einmischen, wo möglich – ob im Bereich der Abrüstung, der Friedenssicherung oder der internationalen Vermittlung.
Historische Verwurzelung und moralische Herausforderungen
Auch der Theologe Wolfgang Palaver weist auf die hohe emotionale Bindung der österreichischen Bevölkerung an die Neutralität und die historische Legitimation hin. 1955 wurde durch das Neutralitätsgesetz nicht nur die staatliche Unabhängigkeit gefestigt, Österreich positionierte sich zudem als „Brücke zwischen Ost und West“ im Sinne von Humanität und Solidarität.
Doch Palaver stellt auch kritische Fragen: Hat sich die Neutralität in den letzten Jahren nicht zunehmend in einen Vorwand verwandelt, sich opportun aus Verantwortung zu stehlen? Wenn wirtschaftliche Interessen gegenüber ethischen Verpflichtungen dominieren – wie etwa in Österreichs Haltung gegenüber Russland trotz des Ukraine-Krieges – wird Neutralität zur bequemen Ausrede.
Diese moralische Ambivalenz hat eine lange Geschichte. Schon Philosophen wie Karl Jaspers warnten vor Neutralität als „Wandschirm“, hinter dem sich Feigheit und Egoismus verstecken. Auch in der christlichen Ethik ist Neutralität keineswegs eindeutig positiv besetzt. „Neutralität muss nicht per se gut oder pazifistisch sein“, so Wolfgang Palaver, der sich eine aktivere Debatte über die Zukunft der Neutralität und eine stärkere Integration Österreichs in die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik wünscht. Gerade kleine Staaten wie Österreich, so Palaver, können militärische Sicherheit nur in Zusammenarbeit mit anderen gewährleisten – etwa im Rahmen von EU-Programmen wie dem Luftverteidigungssystem „Sky Shield“.
Neutralität heute: Zwischen Realität und Utopie
Angesichts aktueller Krisen wird Neutralität zunehmend als unzureichend empfunden. Finnland und Schweden haben als Reaktion auf die veränderte Bedrohungslage ihre Neutralität aufgegeben und sind der NATO beigetreten. Auch in Österreich wird diskutiert, ob Neutralität heute noch Sicherheit bietet oder ob sie vielmehr zur Isolation führt.
Dennoch: Die österreichische Neutralität bietet auch heute noch Potenziale, etwa durch Initiativen im Bereich der nuklearen Abrüstung oder der zivilen Konfliktprävention. Österreich kann eine moralische Vorreiterrolle einnehmen, wenn es gelingt, das Konzept der Neutralität neu zu denken – nicht als Ausstieg aus der Verantwortung, sondern als Instrument einer glaubwürdigen Friedenspolitik.
Text: Eva Bauernfeind-Schimek